Esra - oder Das Ende der Autobiografie?

  • Hi!


    Im Rahmen einer Diskussion um das Verbot des Buches "Esra" von Maxim Biller (2003, Kiepenheuer & Witsch) kam die Frage hoch, was denn in einer Autobiografie überhaupt nocht an realen Ereignissen und Personen geschrieben werden darf.


    Ein paar Thesen:


    Wenn also Lothar Matthäus seine Autobiografie über seine Zeit beim FC Bayern München schreibt und dabei seinen Streit mit Uli Hoeness schildert - dann darf er das, weil Uli Hoeness eine Person von öffentlichem Interesse ist.


    Schildert Lothar Matthäus im gleichen Buch hingegen, wie Alois Muckel auf seinem kleinen Traktor saß und das Gras im Olympiastadion mähte, und das unter Absingen von Schmähliedern gegen 1860 München, dann wird das Buch u.U. eingestampft, weil Alois Muckel (keine Person von öffentlichem Interesse) in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt wird (Darstellung intimer bzw. sehr persönlicher Details).


    Wenn Opa Krause in einem Buch seine Lebensgeschichte erzählt, wie er 1968 in Berlin auf einer Demo Steine gegen Polizisten warf, und das zusammen mit seinem damaligen Kumpel Willi Huber, der heute eine gut gehende Praxis als Psychotherapeut in Hamburg führt, dann darf Opa Krause das nicht in seinem Buch schreiben: Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Willi Huber.


    Oder wenn Werner Bratzke die Ereignisse der Grenzöffnung im November 1989 schildert und dabei einen Mann der DDR-Grenztruppen namentlich nennt, der bis zum Ende verhindern wollte, dass DDR-Bürger in den Westen wechselten (weil er der Schabowski-Meldung nicht glaubte), dann darf auch dieser Text nicht in die Öffentlichkeit wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte dieses DDR-Grenzers.


    Ist die Autobiographie also tot? Darf alles nur noch abgeändert und anonymisiert geschrieben werden? Und was wird aus den ganzen Unterlagen, die Kempowski im Rahmen seiner Sammlung "Das Echolot" an autobiografischen Zeugnissen gesammelt hat?


    Wie seht ihr das?


    Grüße
    Siegfried der Alte

  • Hallo, Siegfried_der_Alte.


    Obwohl Prominente mit Einschränkungen ihrer Persönlichkeitsrechte leben müssen, ist es dennoch nicht zulässig, Unwahrheiten über sie zu verbreiten. Wer also eine Autobiographie schreibt und solche "Personen des öffentlichen Interesses" nennt, muss ebenfalls vorsichtig sein. Nicht belegbare "Fakten", die die genannte Person in einem schlechten Licht erscheinen lassen, können ebenfalls dazu führen, dass makuliert werden muss. Das Eis ist also in allen Fällen dünn. Viele Autoren mühen sich damit ab, unscharf zu bleiben und/oder Persönlichkeiten nur indirekt zu nennen bzw. zu beschreiben. Wenn ein Bundesligafussballer mit der c-prominenten Viva-Moderatorin Sex im Spind hatte, ohne dabei beobachtet worden zu sein, muss er bei der Erwähnung dieser Episode in seiner Biographie entweder auf die Nennung von Namen verzichten oder zuvor die Erlaubnis jener Dame einholen. Ansonsten droht ihm nämlich ebenfalls das "Esra"-Schicksal.


    Personen, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen, haben ein Recht auf Schutz ihrer Privatsphäre, und das gilt auch für DDR-Grenzer oder den Steinewerfer Willi Huber. Deshalb ist es grundsätzlich nicht gestattet, Normalbürger im Rahmen von Buchveröffentlichungen an das Licht der Öffentlichkeit zu zerren, ohne sie vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Das gilt tatsächlich in allen Fällen, vergleichbar mit dem Recht am eigenen Abbild (man darf grundsätzlich keine Fotos von irgendwelchen Personen veröffentlichen, ganz egal, in welchem Zusammenhang, es sei denn, es ist - auch indirekt - erlaubt worden, etwa durch den Kauf der Eintrittskarte zu einer Veranstaltung). Aber es gibt Mittel und Wege, um derlei zu umgehen. Wenn anhand der Personenbeschreibung einem nur sehr kleinen Kreis bekannt ist, um wen es sich bei der beschriebenen Person handelt, darf sie erwähnt werden - ohne Namensnennung. Dabei muss aber - siehe Rechtsprechung zu "Esra" - auch zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Literatur unterschieden werden. Maxim Biller hat einen Roman (!) geschrieben, der Autobiographisches zum Nachteil der unschwer erkennbaren Realpersonen geschildert hat. In einer Autobiographie sieht das ein wenig anders aus, denn Personen, die sich im Dunstkreis eines Prominenten befinden oder befunden haben, genießen hierdurch auch eine gewisse Prominenz. Insofern, da Du Dich auf Biller beziehst, ist der Threadtitel eigentlich falsch. ;)

  • Personen, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen, haben ein Recht auf Schutz ihrer Privatsphäre, und das gilt auch für DDR-Grenzer oder den Steinewerfer Willi Huber. Deshalb ist es grundsätzlich nicht gestattet, Normalbürger im Rahmen von Buchveröffentlichungen an das Licht der Öffentlichkeit zu zerren, ohne sie vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Das gilt tatsächlich in allen Fällen, vergleichbar mit dem Recht am eigenen Abbild (man darf grundsätzlich keine Fotos von irgendwelchen Personen veröffentlichen, ganz egal, in welchem Zusammenhang, es sei denn, es ist - auch indirekt - erlaubt worden, etwa durch den Kauf der Eintrittskarte zu einer Veranstaltung).[/quote]


    Hallo, Tom_der_Forengott! :D


    Im Prinzip ist es also so, wie ich es erwartet habe: Wenn ein Rentner seine Lebenserinnerungen aufschreiben will, bewegt er sich rechtlich in einer gefährlichen Grauzone.


    Ich habe hier mal eine Zeile aus so einer Autobiographie:


    Oft gingen wir in die Reitställe von Hermann Schridde, einem Turnierreiter, der in der damaligen Zeit Goldmedaillen für die Bundesrepublik errang und in unserem Dorf wohnte, und fütterten die Pferde oder halfen beim Stallausmisten.


    Hier wird Hermann Schridde namentlich genannt. Eine Zustimmung der Nennung dürfte kaum vorliegen, da Schridde seit fast 25 Jahre tot ist. Also erlaubt? Oder Erlaubnis einholen der Nachfahren?


    Schwierig. Besonders für den Verfasser der Autobiographie.


    LG
    Siegfried_der_Alte

  • Hallo, SdA.


    Die erwähnte Figur ist eine Person des öffentlichen Interesses (Goldmedaillengewinner). Bei Privatpersonen, die noch leben, muss immer deren Erlaubnis eingeholt werden (siehe "Recht am eigenen Bild"). Und in allen Fällen ist es unzulässig, Unwahrheiten zu behaupten, nur bei toten Promis nicht. ;)

  • Hallo Tom,


    wenn ich nun eine Figur Shilton statt Hilton nenne und in einem Hotel als Hotelerbin auftreten lasse habe ich eventuell ein Problem, weil ich Persönlichkeitsrechte verletzte? Oder Nicht?


    nur mal so eine Frage


    Andreas

  • ...auch mich interessiert das Thema sehr konkret und ich habe auch eine konkrete Frage: in einem autobiografisch gefärbten Roman von mir schildere ich eine (tatsächlich so abgelaufene) Begegnung mit Richard von Weizsäcker. Muss ich ihn da also um Erlaubnis fragen, wenn es zu einer Veröffentlichung kommt? Oder macht das der Verlag?


    Und wie sieht es mit nicht-öffentlichen Personen aus, deren Namen ich natürlich verändert habe, die sich - sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass sie das Buch lesen würden - aber wiedererkennen dürften und nicht immer gut bei mir wegkommen?


    Fragende Grüße von Habibi

  • Zitat

    Original von habibi
    ...auch mich interessiert das Thema sehr konkret und ich habe auch eine konkrete Frage: in einem autobiografisch gefärbten Roman von mir schildere ich eine (tatsächlich so abgelaufene) Begegnung mit Richard von Weizsäcker. Muss ich ihn da also um Erlaubnis fragen, wenn es zu einer Veröffentlichung kommt? Oder macht das der Verlag?


    Wenn du einen Verlagsvertrag hast, dann schau dir den mal genau an. Du wirst fragen müssen, es sei denn, du verhandelst schon auf dem Niveau von Günter Grass


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


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    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Ich würde schon um Erlaubnis fragen, aber zumindest den Bekannten aus meinem Text streichen. Das sollte man nicht einfach so leichtfertig machen. Ich selbst habe schon Personen aus meiner Umgebung oder der Fernsehzeitung gefälscht und in Geschichten eingefügt. Doch ich meine, alles, was über das Unpersönliche hinaus geht, ist nicht in Ordnung. Wenn man eine persönlich gemeinte Farce auf weißichnichwen gibt, muss man aufpassen, dass man sich kein blaues Auge holt. Klar, Literatur ist freier als das Leben ... Aber auch die Literatur wird nur von Menschen gelesen, die nicht immer tolerant sind. Also: Von Anstößigkeiten fern halten. Wenn jemand selber Zweifel an einer Stelle in seinem Text hat, hat der Zweifel Recht. Dann gehts ans Wegstreichen.


    Liebe Grüße,


    Saskia

  • Bei Belletristik gelten andere Regeln als bei Biographien. Richard von Weizsäcker in einen Roman einzubauen ist eine schwierige Angelegenheit. Selbst wenn es diese Begebenheit tatsächlich gab, ist der Rest des Textes überwiegend fiktional, und deshalb würde man diese öffentliche Person hierfür missbrauchen. Er könnte mit recht/Recht dagegen vorgehen.


    Ich habe diesen Turnschuh-Moderator Cherno Jobatey als Figur in "Geisterfahrer" erwähnt, und Basis hierfür war ein ähnliches, real stattgefundenhabendes Ereignis. Ich habe trotzdem offengelassen - nach Rücksprache mit dem Lektorat -, ob Jobatey tatsächlich (als Romanfigur) das Konzert, um das es ging, besucht hat, oder ob eine andere Romanfigur das nur annahm bzw. ihn verwechselt hat. So wiederum kann man es machen.

  • Was die Person R.v.W. anbetrifft, kommt noch etwas hinzu. Vor ein paar Jahren war er in T. zu einer Signierstunde seines damals neuen Buches. Bei der Gelegenheit habe ich ihm meinen (die damalige 1. Fassung) Roman (mit Widmung) als Manuskript geschenkt, nachdem ich ihn noch einmal an jene Szene erinnert und mich noch einmal für seine Hilfe bedankt hatte (hatte ich auch gleich nach meiner Übersiedlung postalisch gemacht und einen netten persönlichen Brief aus der Villa Hammerschmidt bekommen). Das Manuskript kam ein paar Tage später mit einem Dankschreiben zurück (natürlich wird er es nicht gelesen haben).


    Könnte man aber diese Tatsache so darlegen, dass er ja Kenntnis von seinem Auftauchen in dem Roman gehabt haben müsste?


    ?(Habibi