Welche Erzählperspektive?

  • Zitat Tom: "Ein Ich-Erzähler kommentiert sich selbst nicht - oder nur ausnahmsweise -, er nimmt wahr und zur Kenntnis, er reflektiert auch, aber er bewertet sich nur höchst selten, jedenfalls in der Form, in der das ein personaler oder auktorialer Erzähler tun würde"


    Diese Frage, also was ist die richtige Erzählperspektive für meinen neuen Roman, muss ich gerade beantworten. Was meint ihr dazu?


    Ich soll eine wahre Geschichte einer Frau (die Frau bin nicht ich) als Roman schreiben. So weit so gut. Natürlich ist es gerade bei dieser Geschichte wichtig, warum diese Frau bestimmte Dinge tut (z.B. warum sie Beziehungen zu bestimmten Männern aufnimmt). Eigentlich wollte ich es in der 1. Person schreiben, da mir hier die größtmögliche Authentiziät und Nähe gegeben scheint. Was ist aber mit den notwendigen Reflektionen? Darunter solche Gedanken, die sich die Prot gar nicht machen würde, u.a. weil sie sonst nämlich anders handeln würde. Also z.B. der Einfluss des frühen Todes des Vaters und einer Bemerkung von ihm, die ihre Handlungen beeinflusst, ohne dass sie sich das bewusst macht.


    Na, ja, weiß nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe, kann mir jemand weiterhelfen? (Bisher habe ich nämlich noch keine Romane in der Ich-Form geschrieben.)


    Gruß von Habibi

  • hallo habibi,


    Zitat

    Original von habibi
    Eigentlich wollte ich es in der 1. Person schreiben, da mir hier die größtmögliche Authentiziät und Nähe gegeben scheint. Was ist aber mit den notwendigen Reflektionen?


    ein ich-erzähler kann durchaus auch reflektieren, aber nur dosiert, weil es in der subjektiven perspektive sonst unglaubwürdig würde. als autorin hast du andere möglichkeiten: du kannst deiner heldin figuren zur seite stellen, die v.a in dialogen ihr verhalten kommentieren. allgemein kannst du ihr widerstände entgegensetzen, die versuchen, sie von ihrem weg abzubringen.


    trotzdem lasse ich in meinem aktuellen romanprojekt meinen ich-erzähler relativ viel reflektieren, aber eher aus der vergangenheit, aus der er erzählt, kaum im aktiven geschehen.


    Zitat


    Darunter solche Gedanken, die sich die Prot gar nicht machen würde, u.a. weil sie sonst nämlich anders handeln würde. Also z.B. der Einfluss des frühen Todes des Vaters und einer Bemerkung von ihm, die ihre Handlungen beeinflusst, ohne dass sie sich das bewusst macht.


    lass sie handeln, dabei ein foto von ihm kurz betrachten, aber dann zur seite stellen. nur so als beispiel.


    viele grüße,
    michael

  • Der Ich-Erzähler hat zuweilen ganz praktische Nachteile: Es ist außerordentlich schwierig, Nebenstränge einzuflechten, die dann personal erzählt werden (müssten). Viele Leser identifizieren den Ich-Erzähler ganz automatisch mit dem Autor, nicht notwendigerweise persönlich, aber sozial und örtlich. Deshalb sind die meisten Gegenwarts- und Popromane aus der Ich-Perspektive erzählt, aber alles, was sich historisch schimpft, arbeitet mit personalen oder auktorialen Erzählern. Ich-Erzähler lassen weniger Überraschungen im Hinblick auf die Hauptfigur zu. Ich-Erzähler müssen bezogen auf die Hauptfigur objektiv sein. Ich-Erzähler dürfen schwafeln, larmoyant sein, sogar geschmäcklerisch. Der personale Erzähler ist im Hinblick auf die äußeren Umstände glaubwürdiger, weil er eben nicht an eine Person gebunden ist! Beim auktorialen Erzähler gilt das umso mehr, aber auktoriale Erzähler wirken oft besserwisserisch, und manch ein Autor erliegt der Versuchung, sie für Info-Dumping zu missbrauchen. Hat alles seine Vor- und Nachteile.

  • Michael: Der personale Erzähler erzählt zwar aus der Sicht einer Person, entspricht ihr aber nicht - sie (die Person) ist nicht der Erzähler. Damit ist der Erzähler auch nicht an ihr Paradigma oder ihre Wertvorstellungen gebunden, sondern darf sie sogar kommentieren und werten.

  • Hallo Tom und Michael, das ist auch für mich schwierig nachzuvollziehen, da z.B.bei Wikipedia nur zwischen personalen Erzähler (der mit dem Ich-Erzähler gleichgesetzt wird) und auktorialem Erzähler unterschieden wird.


    z.B. "Bei einer Ich-Erzählung ist die Frage nach der Erzählperspektive scheinbar leichter zu klären. Die betonte Subjektivität markiert einen eingeschränkten Standpunkt, denn ein Ich-Erzähler kann nicht alles über die erzählte Welt wissen. Demgegenüber hat ein auktorialer, also allwissender Erzähler unbegrenzten Zugang zu allen Informationen der erzählten Welt."


    Zitat Tom: "Ich-Erzähler müssen bezogen auf die Hauptfigur objektiv sein"


    Deshalb verstehe ich auch das nicht.


    Nebenstränge kommen bei mir nicht vor, es wird ganz stringent und chronologisch - bis auf die Ausnahme von Prolog, Zwischentext und Epilog - erzählt. Auch Dialoge werden nicht vorkommen, passt einfach nicht zum Format.


    Vielleicht weiß noch jemand was Hilfreiches.


    Gruß von Habibi

  • Zitat

    Zitat Tom: "Ich-Erzähler müssen bezogen auf die Hauptfigur objektiv sein"
    Deshalb verstehe ich auch das nicht.


    Ein Ich-Erzähler ist mit der erzählten Hauptfigur identisch. Er kann nicht ahnen, glauben, annehmen, dass und warum die Figur etwas tut, er weiß es. In Bezug auf sich selbst kann er nicht spekulieren.

  • Hallo Tom, dann habe ich meine bisherigen Romane immer aus der Perspektive des personalen ERzählers (also 3. Person) geschrieben. Doch was ist dann der Unterschied zum auktioralen Erzähler?


    :(


    fragt Habibi

  • Hallo Tom: "Er kann nicht ahnen, glauben, annehmen, dass und warum die Figur etwas tut, er weiß es. In Bezug auf sich selbst kann er nicht spekulieren."


    Also ich habe in meinen Romane aus personaler Perspektive, 3. Person, auch nicht "angenommen", sondern behauptet. Also "sie tat das und das, weil..."


    War das dann falsch oder was?


    Außerdem stimmt es nicht, weil es viele Leute gibt (eigentlich die meisten), die sich über ihre Motive bzgl. ihres Handelns auch nicht klar sind. (Sonst hätten nämlich die Psychologen nichts mehr zu tun.) =)


    Gruß Habibi

  • Der personale Erzähler schildert aus Sicht einer Figur:


    "Horst kam in die Kneipe. Er fühlte sich unsicher, weshalb er nur langsam auf den Tresen zuging. Dort entdeckte er eine füllige Sechzigjährige, die ihm gefiel. Als er sie ansprach, zog sie die Augenbrauen hoch."


    Der auktoriale Erzähler nimmt nicht die Perspektive einer bestimmten Figur ein, sondern betrachtet das Geschehen übergeordnet. Gleichzeitig "ist" er in allen Figuren, weshalb man ihn auch den allwissenden Erzähler nennt.


    "Horst betrat die Kneipe, blickte sich unsicher um und ging dann langsam auf den Tresen zu. Dort entdeckte er eine füllige Sechzigjährige, die ihm gefiel, also sprach er sie an. Herta, die dicke Frau, interessierte sich aber wenig für ihn. Sie zog die Augenbrauen abfällig in die Höhe."

  • Okay Tom , leuchtet ein, ist mir ja fast peinlich, dass ich so rumeire, hab aber nun mal nicht Germanistik studiert (hab ja nicht mal Abi 8o),


    aber de facto ist es doch so, dass eine reine personale Perspektive wohl kaum durchzuhalten und wohl kaum in einem Roman zu finden sein wird. Oder sehe ich auch das falsch?


    Gruß von Habibi

  • Tatsächlich ist die personale Perspektive m.E. die beliebteste. Die meisten amerikanischen Erzähler z.B. erzählen aus der Sicht ihrer Hauptfiguren, aber eben personal, also nicht "von innen". Man kann auch mehrere personale Perspektiven mischen.

  • Wenn du also, um wieder auf mein konkretes Anliegen zurückzukommen, die Geschichte von jemand erzählen müsstest und die Leser sollen nah dran sein und ständig spüren, dass das, was du da erzählst, wirklich erlebt wurde, würde sich da die personale Perspektive von selbst ausschließen?


    Immer eingedenk der Wichtigkeit der Motive hinter dem Handeln der Person?


    Habibi

  • "Ich" hat auch Nachteile, wie gesagt. Wenn man biographisch erzählt, wählt man eigentlich meistens die personale Perspektive, aber das ist kein Must. Personal lässt bei solchen Sachen etwas mehr Freiraum, weil man sich auf die spekulative Ebene zurückziehen kann, wenn man etwas nicht genau oder sicher weiß, wohingegen der Ich-Perspektive abverlangt wird, dass sie die Stimme der erzählten Person exakt und authentisch wiedergibt.

  • Hallo Tom,


    I beg to differ. Personale Erzähler können durchaus so dicht an der Figur arbeiten, dass sie über weite Strecken wie ein Ich-Erzähler funktionieren. Für das, was die Amis tight third person nennen. gilt sogar die Faustregel, dass er dann stimmt, wenn sich die Personalpronomen ohne Schwierigkeiten tauschen lassen. Der PE folgt also den Gedanken der Figur wie der retrospektive Ich-Erzähler auch. Er ist allerdings nicht so pathos-gefährdet, kann Emotionen leichter ausdrücken. Und - wie ich schon andernorts sagte - bin ich mir von der Nähe, die ein Ich-Erzähler erzeugen soll, nicht wirklich überzeugt. Mich setzt er grundsätzlich in eine Zuhörersituation, während ich einem PE ohne Schwierigkeiten direkt in den Kopf folgen kann. Was den PE aber ausmacht, ist nun gerade seine beschränkte Sichtweise und die Tatsache, dass er lügen darf. Zieht man das allzusehr auf, wird bald ein allwissender Erzähler daraus. Wäre ja eigentlich nicht schlimm, nur ist ein AE mit der ersten Lüge unglaubwürdig und funktioniert nicht mehr. HIer die Balance zu halten, ist nicht einfach. Deshalb gelingt nur wenigen wirklich auf dem Zaun zwischen AE und PE zu tanzen. Ehrlich gesagt fällt mir gerade niemand ein, der das je geschafft hätte.


    Natürlich gibt es wie überall Gradationen und Übergänge zu anderen Perspektiven. Wichtig ist dabei, dass es einen Unterschied zwischen der literaturwissenschaftlichen Betrachtung der Erzählsituation und den schreibtheoretischen Perspektiven gibt. Während die Literaturwissenschaft den Ist-Zustand aufnimmt, will die Schreibtheorie Möglichkeiten erkunden. Da decken sich die Bedeutungsbandbreiten der gleichlautenden Begriffe nicht immer.


    Für das Schreiben gilt dabei, dass alles möglich ist, was nicht rauswirft. Lian Hearst wechselt wie Ron Kovic durchaus zwischen Ich- und personalem Erzähler und es funktioniert.


    Dazu kommt, dass neben den Perspektivien auch immer die Erzählhaltung eine Rolle spielt. Jeder der großen Erzählertypen wie auch alle Untergruppen kann eben aus einer frei wählbaren Grundhaltung heraus erzählen: witzig, satirisch, neutral, melancholisch etc.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Hallo Judith, danke für die Tipps, aber ich werde dort NICHT nachschauen und weißt du auch, warum? Weil mich das, was zu meiner Frage in diesem (und in Toms BT) Thread bis jetzt gepostet wurde sowie das, was ich in Wikip. gelesen haben, schon genug verwirrt hat. Meine Einstellung dazu ist: Wenn es mir bis jetzt (lt. Aussagen verschiedenster Fachleute und Laien) gelungen ist, Romane oder KGs zu schreiben, die die Frage nach der herrschenden Erzählperspektive erst gar nicht aufkommen gelassen haben, weil ich es "aus dem Bauch heraus" richtig gemacht zu haben scheine, wird es vielleicht gerade dadurch, dass ich es jetzt versuche, VORHER wissenschaftlich untermauert festzulegen, nicht gut werden. Oder wie mir ein alter Zirkelleiter mal sagte: wer schreiben kann, lernt in Leipzig (Literaturinstitut) auch nicht mehr und wer nicht schreiben kann, lernt in Leipzig das Schreiben auch nicht.


    Werde mich also wieder von meinem Bauchgefühl leiten lassen und zunächst mal die 1. Person versuchen, und wenn es nötig ist, schauen, wie es sich mit dem PE verbinden lässt, so dass es noch funktioniert. Vielleicht stelle ich ja die Leseprobe, bevor sie zum Verlag geht, mal hier ein.


    Oder ist es anrüchig, wenn man Geschichten aufschreibt, die bereits vorgegeben, weil von jemand anderem erlebt, sind? Gehört das dann eigentlich zur Literatur? Oder ist das bloßes Ghostwriting? Wie seht ihr das? Extra Thread? ?(


    Gruß Habibi

  • Zitat

    Auch der personale Erzähler umfasst doch die (eigene) Außen- und Innensicht. Das bleibt doch nicht dem Ich-Erzähler vorbehalten.



    Sehe ich ebenso, Cordula.
    Natürlich kann der Personale Erzähler Innensichten darlegen. Ebenso wie der Ich-Erzähler. Warum denn nicht? Mit wechselnder personaler Perspektive klappt das noch besser, kann dann das Innenleben aller Prots darstellen, ohne dabei zwingend auktorial zu werden. Dabei ist nur zu beachten, nicht irrtümlich in die allwissende Position zu rutschen, Dinge zu beschreiben, die außerhalb der jeweiligen Perspektive liegen.
    Bin allerdings nicht der Ansicht, wie du oben angemerkt hast, dass ein Ich-Erzähler, (auch nicht im Rückblick) auktorial erscheinen kann. Er kann eben immer nur das erzählen, was er sieht, bzw. gesehen hat, oder wahrnimmt. Aber niemals, wie der auktoriale alles wissen, örtlich und zeitlich herumspringen, wie immer er will, bzw. sich in alle Köpfe seiner Figuren setzen..
    Aber natürlich ist beim Ich-Erzähler, die Erzählstimme gleichzeitig auch die Stimme des Prot. Das sollte, (muss) auch bei den Dialogen klar werden. Ganz im Gegenteil zum Personalen Erzähler.



    Lieben Gruß,
    Manuela :)