Schaut man sich Erzählungen und Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, dann findet man eine Art der Erzählweise, die ich einmal »breit und ausführlich« nennen möchte. So etwas ist heute selten geworden und glaubt man den verschiedenen Schreibratgebern (und den Diskussionen in manchen Foren), dann würden heute Manuskripte dieser Art gar nicht erst das Lektorat passieren.
Hier einmal ein Beispiel für den Anfang einer solchen Erzählung:
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Die alte Barbara machte den Weg zwischen Holzheim und der kleinen Stadt nun seit zweiundzwanzig Jahren. Ihre etwas gedrungene Gestalt von einer zähen und massigen Fülle, in welcher die Kraft eines Menschen lag, der viel und schwer gearbeitet hat, konnte man Sommer und Winter an den Samstagen auf der Landstraße dahingehen sehen. Mit weit ausgreifenden nicht zu schnellen Schritten und in einer Taktmäßigkeit, die vermuten ließ, daß sie irgendein Marschlied dabei summte oder dachte. Sie trug einen großen Korb am linken Arm, darin allerhand Kleinigkeiten untergebracht waren, je nach den Wünschen ihrer bäuerlichen Auftraggeber im Dorfe. Päckchen mit Schnupftabak, verschiedene Knäuel Strickwolle, Fadenspulen, Gewürze vom Krämer und zuweilen auch Arzneien aus der Apotheke. Dafür brachte sie Honig, Eier, Tauben und andere Eßwaren zur Stadt, an ganz bestimmte Abnehmer, meist kleine Beamte oder Familien solcher Leute, die zu dem Dorfe noch verwandtschaftliche Beziehungen besaßen oder an alte Leute, die sich dorthin zurückgezogen hatten. Sie hielt sich nicht lange auf, denn sie besorgte ihre Aufträge mit der Promptheit und Übung einer dutzendjährigen Erfahrung, und selten kam es vor, daß sie nach dem Mittagläuten sich noch nicht auf dem Heimweg befand. Den ersten Berg gleich hinter der Stadt nahm sie langsam, ein wenig schwer atmend, denn sie war sechzig Jahre alt; dann aber erstreckte sich die Straße eben fort und gestattete einen tüchtigen Schritt zu gehen.
Die (vermeintliche) Hauptperson ist eingeführt, der Grund beschrieben, warum sie Unterwegs ist und mit dem letzten Satz auch ein wenig die Gegend beschrieben, in der diese Geschichte spielt. Dann ist es dem Autor noch wichtig, etwas zur Stimmung und zum Klima zu sagen:
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Es was sehr schwül heute …
Die drei vorhergehenden Tage hatte es geregnet und war empfindlich kalt gewesen. Ein herber Nordwest war über die schnittreifen Felder gejagt, so daß sie, trotzdem man noch im August stand, einen spätherbstlichen Anblick geboten hatten. Sogar Nebel, wie sie erst im November kommen, waren Tag für Tag emporgestiegen und verschleierten den Osten.
In einem weiteren langen Absatz geht es jetzt noch über Himmel und Landschaft her, dann erst taucht der eigentliche Protagonist auf, gesellt sich zu der eingeführten Person, geht über zwei Seiten neben ihr her und kommt dann zu dem Moment dieser eigentlich kurzen Erzählung, um den es geht:
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Plötzlich blieb er stehen, trat einen halben Schritt hinter sie und umfaßte mit der linken Hand schnell den Knoten ihres roten, im Nacken festgebundenen Kopftuches. Und indem er jäh ihr den Schädel zurückriß, schnitt seine Rechte mit dem breiten, griffesten Messer, das er verborgen gehalten hatte, rasch und kräftig ihren Hals durch wie eine Henne, so daß ihr Schrei im Blute erstickte, ehe er die Höhle ihres Mundes verlassen konnte.
Auch die Beschreibung des Sterbens der alten Barbara ist breit und behäbig, so dass man zusehen kann und sich das Bild langsam im Kopf des Lesers verfestigt.
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Sie sank ihm fast lautlos in die Arme, aber er fürchtete von ihrem Blute besudelt und verraten zu werden und gab ihr einen Stoß vorwärts, daß sie über den Straßenrand hinunter auf ein tieferliegendes Torffeld stürzte. Dort unten wälzte sie sich ein paarmal mit gräßlichen verzerrungen ihres Gesichtes und ihrer Hände hin und her. Dann blieb sie auf dem Rücken liegen, den Hals über eine Erdscholle nach rückwärts gebeugt, mit etwas überhängendem Kopfe, so daß ihre Wunde weit klaffte und ihr Blut wie aus einer Brunnenröhre herausquoll. In kurzen, gleichmäßigen Stößen sprang es hervor, überflutete den durchschnittenen Kehlkopf,d er noch immer den Atem einsog und ausstieß, und erzeugte so mit der ausströmenden Luft ein glucksendes Geräusch, das sich anhörte, wie wenn man mit dem schnalzen seiner Zunge einen Hund lockt. Zehnmal, ein dutzendmal ertönte dieses Glucksen und Schnalzen, immer stiller, immer schwächer werdend, länger aussetzend, und nach einer Minute verstummte es ganz.
Damit jetzt genug. Es soll hier nicht die ganze Erzählung ausgebreitet werden. Auch der Autor ist vorerst unwichtig für meine Frage.
Darf man also heute noch so schreiben (wobei "darf" nicht in dem Sinne gemeint ist, dass irgend jemand um Erlaubnis gebeten werden muss) oder ist das ein Art des Erzählens, die in die Literaturgeschichte gehört und keinesfalls mehr in die Praxis?
Ich bin gespannt auf die Antworten.
Horst-Dieter