Darf man heute so noch schreiben?

  • Schaut man sich Erzählungen und Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, dann findet man eine Art der Erzählweise, die ich einmal »breit und ausführlich« nennen möchte. So etwas ist heute selten geworden und glaubt man den verschiedenen Schreibratgebern (und den Diskussionen in manchen Foren), dann würden heute Manuskripte dieser Art gar nicht erst das Lektorat passieren.


    Hier einmal ein Beispiel für den Anfang einer solchen Erzählung:


    Zitat


    Die alte Barbara machte den Weg zwischen Holzheim und der kleinen Stadt nun seit zweiundzwanzig Jahren. Ihre etwas gedrungene Gestalt von einer zähen und massigen Fülle, in welcher die Kraft eines Menschen lag, der viel und schwer gearbeitet hat, konnte man Sommer und Winter an den Samstagen auf der Landstraße dahingehen sehen. Mit weit ausgreifenden nicht zu schnellen Schritten und in einer Taktmäßigkeit, die vermuten ließ, daß sie irgendein Marschlied dabei summte oder dachte. Sie trug einen großen Korb am linken Arm, darin allerhand Kleinigkeiten untergebracht waren, je nach den Wünschen ihrer bäuerlichen Auftraggeber im Dorfe. Päckchen mit Schnupftabak, verschiedene Knäuel Strickwolle, Fadenspulen, Gewürze vom Krämer und zuweilen auch Arzneien aus der Apotheke. Dafür brachte sie Honig, Eier, Tauben und andere Eßwaren zur Stadt, an ganz bestimmte Abnehmer, meist kleine Beamte oder Familien solcher Leute, die zu dem Dorfe noch verwandtschaftliche Beziehungen besaßen oder an alte Leute, die sich dorthin zurückgezogen hatten. Sie hielt sich nicht lange auf, denn sie besorgte ihre Aufträge mit der Promptheit und Übung einer dutzendjährigen Erfahrung, und selten kam es vor, daß sie nach dem Mittagläuten sich noch nicht auf dem Heimweg befand. Den ersten Berg gleich hinter der Stadt nahm sie langsam, ein wenig schwer atmend, denn sie war sechzig Jahre alt; dann aber erstreckte sich die Straße eben fort und gestattete einen tüchtigen Schritt zu gehen.


    Die (vermeintliche) Hauptperson ist eingeführt, der Grund beschrieben, warum sie Unterwegs ist und mit dem letzten Satz auch ein wenig die Gegend beschrieben, in der diese Geschichte spielt. Dann ist es dem Autor noch wichtig, etwas zur Stimmung und zum Klima zu sagen:


    Zitat


    Es was sehr schwül heute …
    Die drei vorhergehenden Tage hatte es geregnet und war empfindlich kalt gewesen. Ein herber Nordwest war über die schnittreifen Felder gejagt, so daß sie, trotzdem man noch im August stand, einen spätherbstlichen Anblick geboten hatten. Sogar Nebel, wie sie erst im November kommen, waren Tag für Tag emporgestiegen und verschleierten den Osten.


    In einem weiteren langen Absatz geht es jetzt noch über Himmel und Landschaft her, dann erst taucht der eigentliche Protagonist auf, gesellt sich zu der eingeführten Person, geht über zwei Seiten neben ihr her und kommt dann zu dem Moment dieser eigentlich kurzen Erzählung, um den es geht:


    Zitat


    Plötzlich blieb er stehen, trat einen halben Schritt hinter sie und umfaßte mit der linken Hand schnell den Knoten ihres roten, im Nacken festgebundenen Kopftuches. Und indem er jäh ihr den Schädel zurückriß, schnitt seine Rechte mit dem breiten, griffesten Messer, das er verborgen gehalten hatte, rasch und kräftig ihren Hals durch wie eine Henne, so daß ihr Schrei im Blute erstickte, ehe er die Höhle ihres Mundes verlassen konnte.


    Auch die Beschreibung des Sterbens der alten Barbara ist breit und behäbig, so dass man zusehen kann und sich das Bild langsam im Kopf des Lesers verfestigt.


    Zitat


    Sie sank ihm fast lautlos in die Arme, aber er fürchtete von ihrem Blute besudelt und verraten zu werden und gab ihr einen Stoß vorwärts, daß sie über den Straßenrand hinunter auf ein tieferliegendes Torffeld stürzte. Dort unten wälzte sie sich ein paarmal mit gräßlichen verzerrungen ihres Gesichtes und ihrer Hände hin und her. Dann blieb sie auf dem Rücken liegen, den Hals über eine Erdscholle nach rückwärts gebeugt, mit etwas überhängendem Kopfe, so daß ihre Wunde weit klaffte und ihr Blut wie aus einer Brunnenröhre herausquoll. In kurzen, gleichmäßigen Stößen sprang es hervor, überflutete den durchschnittenen Kehlkopf,d er noch immer den Atem einsog und ausstieß, und erzeugte so mit der ausströmenden Luft ein glucksendes Geräusch, das sich anhörte, wie wenn man mit dem schnalzen seiner Zunge einen Hund lockt. Zehnmal, ein dutzendmal ertönte dieses Glucksen und Schnalzen, immer stiller, immer schwächer werdend, länger aussetzend, und nach einer Minute verstummte es ganz.


    Damit jetzt genug. Es soll hier nicht die ganze Erzählung ausgebreitet werden. Auch der Autor ist vorerst unwichtig für meine Frage.


    Darf man also heute noch so schreiben (wobei "darf" nicht in dem Sinne gemeint ist, dass irgend jemand um Erlaubnis gebeten werden muss) oder ist das ein Art des Erzählens, die in die Literaturgeschichte gehört und keinesfalls mehr in die Praxis?


    Ich bin gespannt auf die Antworten.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Auch wenn ich damit nicht up to date bin. Mir gefällt dieser altbackene Stil und seine blumige Sprache. Da fällt mir gleich Peter Rosegger ein, oder etwa Stefan Zweig. ;)
    Heutigentags ist so etwas bestimmt nicht mehr unter die Leute zu bringen. (zu verlegen)
    In einer Zeit, in der kein Satz länger als fünf Worte sein sollte, in der alles gezeigt, möglichst nichts erzählt werden darf, alles direkt und geradlinig formuliert werden muss. Vielleicht hat man Angst, den Leser zu überfordern?
    Gerade die Erzähler der Epoche des ausgehenden 19. und beginnenden 20 Jahrhunderts haben meine Liebe zum Lesen und vielleicht sogar zum Schreiben maßgeblich beeinflusst. Immer wieder greife ich gerne zu den von mir so geliebten Novellen aus dieser Zeit.


    Lieben Gruß,
    Manuela :)

  • Ich lese solche Romane ab und zu ganz gern. Sie passen in die Zeit der Romanhandlung und der Stil passt zu der Geschichte, die erzählt wird.
    Klar, bei einem Thriller würde das stören, aber gerade bei Autoren aus der Zeit (Dickens, Cronin, Collins, Verne, Stevensen, usw.) passt diese ausschweifende Erzählweise einfach.


    Ob man es selbst für sich übernehmen sollte, weiß ich nicht. Ich würde es nicht, ich denke auch, dass es schwierig wäre und leicht aufgesetzt wirken könnte.


    Liebe Grüße,
    Maren

  • Für mein Gefühl darf man so noch schreiben. Und zwar immer dann, wenn es zum Genre passt. Viele historische Romane sind ähnlich schwülstig (nicht negativ gemeint) geshrieben und im Fantasybereich trifft man derlei auch oft an.
    Allerdings mag es sein, dass der "moderne" Leser sich nicht mehr so viel Zeit nehmen will, will heißen: betrachtet man das, was sich auf den sogenannten Bestsellerlisten tummelt, dann scheint es die meisten Leser wenig zu interessieren, sich mit Wonne in wunderbare Sätze zu stürzen. Schneller. höher, weiter gilt ja wohl auch für die Literatur - schade eigentlich, denn die "alten Schinken" haben so einiges an feinen Überraschungen parat (so hab ich, nur eine Nebenbemerkung, vor ein paar Wochen Louis Bromfield verschlungen, da finden sich ähnliche Satzgebilde).

  • Hallo Horst-Dieter,


    ich habe auch in der Gegenwartsliteratur noch Bücher gefunden, die sich in langen Schilderungen ergehen. Das ist zum Teil sehr schön, vorausgesetzt, man weiß, dass einen dieser Stil erwartet. Allerdings sind diese Bücher nicht in den großen Publikumsverlagen erschienen, sondern in mittleren oder kleineren Verlagen, die eher "literarische" Werke veröffentlichen.
    Ich weiß, man landet da schnell in der leidigen Unterteilung in U und E, ich will keine Diskussion vom Zaum brechen, was "publikumswirksam" und was "literarisch" ist. Aber ich denke, den Unterschied gibt es in der /(deutschen) Verlangslandschaft eben noch immer.


    Liebe Grüße
    Anja

  • Zitat

    Original von Anja

    Ich weiß, man landet da schnell in der leidigen Unterteilung in U und E, ich will keine Diskussion vom Zaum brechen, was "publikumswirksam" und was "literarisch" ist. Aber ich denke, den Unterschied gibt es in der /(deutschen) Verlangslandschaft eben noch immer.


    Liebe Grüße
    Anja


    Der zitierte Text wäre auch damals schon als »U« gedacht gewesen, wenn man diese Kategoriesierung schon so vorgenommen hätte.


    Horst-Dieter

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    Emanuel von Bodmann


  • Manchmal geht es auch schlichter. Und ist dann trotzdem Literatur.


    "Det var en ung karl, som gick och plöjde sitt träde en sommarmorgon. Solen sken ljuvligt, gräset var vått av dagg, och luften var så frisk, så att det kunde inga ord beskriva."


    Uebersetzungsversuch:
    "Ein junger Bauer pflügte sein Feld an einem Sommermorgen. Die Sonne schien, das Gras glitzerte im Tau und die Luft war so leicht und frisch, dass man es gar nicht beschreiben kann."


    Selma Lagerlöf, Jerusalem.
    Das Buch, das ich auf die berühmte Insel mitnehmen würde, wenn es nur eines sein dürfte. (Wenn es zwei sein dürfen, nehme ich auch noch "Gösta Berling" mit.)


    Edit(h) ON
    Ach ja. Ich kann kein Schwedisch. Aber ich habe die deutsche Ausgabe so oft gelesen, dass ich den Anfang noch so einigermaßen "im Ohr" hatte.
    Edit(h) OFF

  • Zitat

    Original von Manuela Korn
    … Da fällt mir gleich Peter Rosegger ein, oder etwa Stefan Zweig. ;)


    Zwei Autoren, die unterschiedlicher nicht sein können: der erste bodenständig und mit seinen Texten immer ganz nah am Geschehen, manchmal so deutlich, dass man die Personen zu sehen glaubt, über die er schreibt - der andere Intellektuell ausbreitend, mit stupenden Wissen, immer alles mit einbeziehend, so dass nicht nur die Personen und ihre Handlungen sichtbar werden, sondern auch die Umwelt und das Zeitalter. Beider aber mit einer Erzählgabe gesegnet, die gefangen nimmt und nie Langeweile aufkommen lässt. Gemessen an dem von mir aufgeführten Beispiel stehen sie mit Abstand darüber.


    Zitat


    Heutigentags ist so etwas bestimmt nicht mehr unter die Leute zu bringen. (zu verlegen)
    In einer Zeit, in der kein Satz länger als fünf Worte sein sollte, in der alles gezeigt, möglichst nichts erzählt werden darf, alles direkt und geradlinig formuliert werden muss. Vielleicht hat man Angst, den Leser zu überfordern?


    Hast du die letzte Novelle von Siegfried Lenz gelesen? Der hat es damit sogar in die Spiegelliste geschafft


    Zitat


    Gerade die Erzähler der Epoche des ausgehenden 19. und beginnenden 20 Jahrhunderts haben meine Liebe zum Lesen und vielleicht sogar zum Schreiben maßgeblich beeinflusst. Immer wieder greife ich gerne zu den von mir so geliebten Novellen aus dieser Zeit.


    Lieben Gruß,
    Manuela :)


    Welche? Storm, Raabe, die von dir bereits genannten Rosegger und Zweig vielleicht. Aber die vielen anderen sind vergessen. Wer denkt heute noch an den ersten deutschen Literaturnobelpreisträger Paul Heyse? Zu seiner Zeit ein Autor mit einer Reputation, die heute vielleicht Handke, Gras und Lenz haben. Er wurde vergessen kaum dass er gestorben war. Seine Novellen im Neudruck kann man heute kaum noch bekommen, vielleicht als Reclam-Büchlein oder als deutsche Ausgabe englischer Verlage. Wer einmal hören will, wie Heyse die Novelle auf der Höhe seiner Schaffenskraft in sprachlicher Vollendung ausgestaltet hat, dem sei das Hörbuch zu einer seiner brühmtesten Novellen empfohlen:


    ASIN/ISBN: 3898160262


    Auch der Autor, von dem dieses hier aufgeführte Zitat stammt, der damals von seiner Schriftstellerei leben konnte und deshalb seinen Arztberuf aufgab, ist fast vollständig aus dem Literaturleben verschwunden. Bücher werden gar nicht mehr gedruckt und sind nur noch antiquarisch zu haben.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Mir fällt dazu die Autorin Naomi Mitchison ein - die hat 1931 einen Fantasy-Roman geschrieben, der inzwischen als Klassiker gilt. Das Buch hat über 800 Seiten, aber nach der Hälfte habe ich - überaus genervt von dem blumigen und verschnörkelten Schreibstil - aufgegeben. Für mich ist das nichts, daher könnte ich auch gar nicht so schreiben und möchte so was auch nicht mehr lesen.

  • Zitat

    Original von Horst Dieter
    Aber die vielen anderen sind vergessen. Wer denkt heute noch an den ersten deutschen Literaturnobelpreisträger Paul Heyse? Zu seiner Zeit ein Autor mit einer Reputation, die heute vielleicht Handke, Gras und Lenz haben. Er wurde vergessen kaum dass er gestorben war.
    Horst-Dieter


    (offtopic ON)
    Nun, die Sängerinnen und Sänger, die kennen den Namen Heyse durchaus noch. Nur eben nicht ob der Novellen.
    (offtopic OFF)

  • Die Frage ist nicht, ob man heute noch so schreiben darf: beim Schreiben nehme ich mir alle Freiheiten.


    Warum aber wird heute nicht mehr so geschrieben?


    Ich sehe das in einem Zusammenhang mit der Entwicklung der Medien: Fernsehen, Kino, Internet. Die stellen beschreibende, detailgenaue Literatur nicht in Frage, nein, aber sie sind dennoch Konkurrenz. Wer heute erzählt, der erzählt gegen eine Bilderflut an, die uns alle umgibt. Der Leser hat es nicht mehr so dringend nötig wie früher, dass durch Sprache in seinem Kopf Bilder erzeugt werden. Er ist gesättigt, wenn nicht übersättigt mit Bildern.


    Ausserdem glaube ich, dass wir in einer "schnelleren" Welt leben, als das früher der Fall war. Wir wollen Action. Es muss viel passieren. Wir haben keine Geduld mehr für seitenlange Einleitungen. Kein Zeit für das Langsame. Ich möchte das nicht abwerten. Es ist einfach so. Man muss sich damit auseinandersetzen.


    Der Schreibende kann sich auf andere Dinge konzentrieren. Er muss nicht Bilder mit Worten malen wie vor hundert Jahren. Es kann z.B. mit den Bildern arbeiten, die die Leute schon im Kopf haben. Ein gutes Beispiel für Bilder, die alle kennen, sind die Twin-Towers, und wie dort die Flugzeuge reinfliegen. Das hat sich ins Bildergedächtnis von uns allen eingebrannt. Ein Bildbeschreibung braucht da keiner mehr ...

  • Zitat

    Original von Horst Dieter
    Schaut man sich Erzählungen und Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, dann findet man eine Art der Erzählweise, die ich einmal »breit und ausführlich« nennen möchte. So etwas ist heute selten geworden..


    Ich schätze mal, dass es deswegen heute selten geworden ist, weil man eben heutzutage auch anders spricht, als im 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert. Sprache verändert sich, somit auch die geschriebene Sprache.
    Einem Leser des 19. Jahrhunderts wäre sicherlich auch die Lektüre von Toms "Geisterfahrer" schwer gefallen, was nichts über die "Schwere" der Literatur etwas aussagt, sondern einfach über Sprachentwicklung und gesellschaftliche Komponenten.


    Gruss,


    Bernd

    "Der erfolgreiche Abschluss infamer Aktionen steigert Ihren Bekanntheitsgrad, was für Ihren Feldzug zur absoluten Weltherrschaft unglaublich wichtig ist." (aus dem Benutzerhandbuch des PC-Spiels Evil Genius)

  • Zitat

    Original von Tom


    Und genau darin besteht die Chance für das Wort.


    ich habe mir darueber in letzter zeit einige gedanken gemacht: ein bild oder film, den man zb im kino vor sich hat, besteht aus tausenden und mehr informationen. wenn man im selben wahrnehmungstempo erzaehlen will, muss man das charakteristische in ganz wenigen worten, v.a. mit sehr praeziser, anschaulicher, origineller wortwahl rueberbringen, damit ein bild/film wie das intendierte im geist des lesers entsteht. eine herausforderung, der man sich stellen muss.

  • Hallo Michael,
    ich möchte Dir zu vorgerückter Stunde und leider schon etwas müde, antworten.
    In der Filmkunst haben wir ja dasselbe Phänomen wie in der Literatur und in der Musik.
    Alles wird immer schneller.
    Eine verfilmte Geschichte wird in viele Schnitte zerlegt. Ein Mensch, der 1930 im Kino war, würde vermutlch heute nicht mehr mitkommen (Ich meine nicht, weil er 80 Jahre älter ist. Ich stelle mir eine Zeitreise vor).
    Inhalt wird im Film auch durch Überspringen und Auslassen vermittelt. Wir sind so konditioniert, dass wir Fehlendes ergänzen können.
    Das Besondere am Buch war ja dagegen immer - die Stille. Sich konzentrieren und vergessen, dass man liest.
    Wunderbar, wenn es mir beim Lesen gelingt einen >Film zu sehen<.
    Mit dem Film verrglichen:
    Es ist nicht notwendig, dass der Text jedes Detail, das eine Kamera einfängt, beschreibt.
    Manchmal genügt das Zitat eines Liedes, dass die Leute einen bestimmten Slang sprechen und die Beschreibung ihrer Kleidung.
    Ist es nicht arm, wie viel Opulenz das Kino dagegen aufbieten muss?


    Grüße
    von Topi

    Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben,
    wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann.


    Mark Twain

  • Interessant, was diese Frage nach dem Stil der Novellisten des 19. Jahrhunderts an Meinungen gebracht hat. Ich will die Diskussion dazu gar nicht abbrechen und behalte mir vor, auch weiterhin teilzunehmen. Aber den Autor des Zitats zu nennen halte ich jetzt doch für angemessen:


    A. de Nora ist das Pseudonym von A. Noder, der am 29.7.1864 in München geboren wurde. Als Kind lebte er in verschiedenen Städten Schwabens und Bayern und studierte ab 1882 an der Universität in München Medizin. 1889 nahm er nicht nur seine Tätigkeit als Arzt auf sondern heiratete auch gleich, verlor aber seine Frau schon auf der Hochzeitsreise durch einen Gehirnschlag. Danach lebte er von 1889 - 1910 als Arzt in Türkheim (Schwaben). Dann zog er wieder nach München. Hier lebte er ausschließlich von der Schriftstellerei. In dritter Ehe war er 1914 mit der Schriftstellerin Frigga v. Brockdorff (1878-1954) verheiratet. De Nora trat ab 1896 mit Gedichten und Novellen in Erscheinung. Weiteren Kreisen bekannt wurde er als Mitarbeiter der Münchner Zeitschrift "Jugend". Er veröffentlichte in Folge nicht nur Gedichte und Novellen sondern auch Verszyklen (Madonnen) und Romane (Die Täuscher). In Reclams Universal-Bibliothek erschien 1917 eine kleine Novellensammlung unter dem Titel "Lockendes Blut", dessen Titelnovelle das obige Zitat entnommen ist.


    Wie schon geschrieben war De Nora/Noder zu seiner Zeit sehr populär. Heute sind seine Werke nur noch Antiquarisch zu bekommen. Der Staackmann-Verlag, bei dem De Nora hauptsächlich veröffentlichte, gibt heute zwar noch die Bücher von Peter Rosegger heraus, aber nichts mehr von De Nora.


    Karl Kraus schrieb im April 1914 in “Die Staackmänner”:


    Zitat


    …»Was tun die Dichter sonst, wenn sie Zeit haben und ihre Bücher an Staackmann abgeliefert sind? »A. de Nora läßt sich von Rudolf Hesse porträtieren.« Volenti non fit injuria. Man sieht de Nora, de Noras Porträt und den Hesse, der malt. Der bessere Hesse, der schreibt, erscheint nicht bei Staackmann, wiewohl er das ganze Jahr in Lederhosen herumgeht.«…


    1954 erinnerte sich die Wochzeitschrift DIE ZEIT in der Nr. 14 noch einmal an De Nora. Seither ist es sehr still um ihn geworden.


    Nachdenkliche Grüße


    Horst-Dieter

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Original von Topi
    Ist es nicht arm, wie viel Opulenz das Kino dagegen aufbieten muss?


    hallo topi,


    ich gebe dir mit allem recht, nur scheinst du kino mit dem kommerzmuell aus hollywood gleichzusetzen. es gibt extrem langsame filme, die es immerhin ins kino schaffen udn immerhin ihr, wenn auch kleines publikum haben. zum beispiel filme von ari kausrismaeki und lars von trier.


    gute nacht aus den anden,
    michael

  • Hallo,


    auch ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht. Vielleicht sind wir schon durch die neuen Medien zu sehr verwöhnt, aber ich sehe es eher so:
    Der Mensch macht seit einiger Zeit eine beschleunigte zerebrale Entwicklung durch. In seinem Gehirn werden immer stärker neue, besonders der linken Hemisphäre zugerechneten Bereiche aktiviert, die durch empfangene Reize befriedigt werden müssen. Ebenso, wie es die anderen Medien immer stärker berücksichtigen, muß es eben auch der Schriftsteller machen. Er muß so schreiben, daß das brachliegende Potential im Gehirn in einen aktiven Zustand versetzt wird - und das gelingt am besten durch kurze, knappe Sätze, die ein Höchstmaß an eigener Phantasie freisetzen und gleichzeitig ein hohes Maß von Emotionen aktivieren.
    Ich persönlich liebe lange, beschreibende und kunstvoll strukturierte Sätze, aber dies ist ein ganz spezieller Genuß, den ich mir zur Inspiration und zur Entspannung gönne - zwischendurch. Schreiben würde ich nicht so (außer in persönl. Bereichen), auch wenn ich es manchmal heimlich einfießen lasse. :)


    lg Merovee

  • Zitat

    Original von Merovee
    Der Mensch macht seit einiger Zeit eine beschleunigte zerebrale Entwicklung durch. In seinem Gehirn werden immer stärker neue, besonders der linken Hemisphäre zugerechneten Bereiche aktiviert, die durch empfangene Reize befriedigt werden müssen.


    Ui, ui, ui.
    Ich glaub' bei diesen Ausführungen ist soeben meine linke Hemisphäre flöten gegangen. Nix für ungut, aber interpretierst Du da nicht ein bisschen arg viel hinein?
    Warum sollte der Mensch des 21. Jahrhunderts mit einem Mal anders beansprucht werden, als der Mensch des 20. oder 19. Jahrhunderts? Zu jeder Epoche der Neuzeit mussten sich die Menschen mit Neuerungen beschäftigen, sei es neuen Techniken, neuen Wissenschaften, neuen Philosophien, eben mit gesellschaftlichem Wandel. Als die Kinematographen durch die Lande zogen müssen damals ja reihenweise zelebrale Entwicklungen beschleunigt worden sein.


    Gruss,


    Bernd

    "Der erfolgreiche Abschluss infamer Aktionen steigert Ihren Bekanntheitsgrad, was für Ihren Feldzug zur absoluten Weltherrschaft unglaublich wichtig ist." (aus dem Benutzerhandbuch des PC-Spiels Evil Genius)