Annette Wieners, Die Beerdigung ihrer Mutter

  • Annette Wieners, Die Beerdigung ihrer Mutter (Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2006; ISBN 3-88769-359-0)


    Die achtzehnjährige Eva erzählt von der Beerdigung Marias, der Mutter ihrer Freundin Charlotte, und Besuchen am frischen Grab. In diesen Handlungsrahmen sind Rückblenden eingeschoben, in denen Eva von ihrer Beziehung zu Charlotte und zu Maria erzählt.
    Obwohl die Ich-Perspektive die konsequente Vermittlung der Subjektivität eines Protagonisten bedeutet, ist der Leser irritiert, denn Eva sieht sich selbst, was die Antriebe für ihre oft rätselhaftes, bizarres und provokantes Verhalten betrifft, gleichsam von außen. Ob sie sich nun kopfüber in das teilweise wieder für sie geöffnete Grab hineinrutschen lässt, ob sie Maria rohes Hackfleisch ins Gesicht schmiert oder mit Charlottes Bruder auf einer Damentoilette aneinandergerät, der Leser ist immer wieder genauso überrascht wie die Personen, die Eva brüskiert.
    Dabei hascht Wieners keineswegs nach Effekten, sondern schildert Evas Versuche, Kontakt zu Maria zu bekommen. Bald wird, aus den Rückblenden heraus, eine erotische Spannung spürbar, die sich in Blicken, Berührungen, Küssen verdichtete, aber kaum thematisiert oder gar vertieft wurde. Evas Hunger nach emotionaler Nähe scheint nicht gestillt zu sein: Einmal beobachtet sie ihre schlafende Mutter, und sie erweist sich in dieser Szene gleichermaßen als dreist wie als hilflos.
    Dass sie zu ihrer Mutter nur ein gebrochenes Verhältnis hat, wird deutlich, als sie ihr eigenes Geborensein symbolisch auslöscht: „Ich zog das schwarze Kleid hoch über meinen Bauch im Angesicht des Spiegels. Ich drückte Make // Up aus der Tube in meinen Nabel. Ich verteilte die Creme, füllte die Delle, ließ das Krause verschwinden und glich den Rand aus. Glatt trug ich meinen Bauch nun, nabellos schön.“ (S. 174 f.)
    Wieners schafft eine dichte Atmosphäre, wozu besonders beiträgt, dass Evas exaltiertes Verhalten von einer unmittelbaren, oft schockierenden Körperlichkeit, von sich immer weiter vortastender Aggression (lat. aggredi: heranschreiten, an-greifen!) geprägt ist. In ihren Provokationen überschreitet sie auch öfter die Ekelschwelle. Besonders Maria, in der sie offensichtlich eine Ersatzmutter sehen will, wird von ihr gequält und beleidigt. Maria erträgt dies aber lange, wohl weil sie ebenfalls in einer Familie lebt, in der die Seelen erstarrt und die Emotionen abgekühlt sind.
    Als Eva behauptet, von Marias Mann schwanger zu sein, kommt es im Bad zu einer Rangelei, Maria rutscht, ohne Evas unmittelbares Verschulden, aus, schlägt mit dem Kopf an die Wanne und ist tot. Erst Tage später erfährt Eva von Charlotte, dass diese alles mitbekommen hat, der Hintergrund dieses Todes, der von allen für einen Unfall gehalten wird, also zumindest der Tochter der Toten nicht entgangen ist.
    Charlotte wird aber niemandem etwas verraten. In einem Gespräch am Grab tritt der Grund dafür zutage.
    „Früher hatte ich immer Angst, unsere Familien könnten auffliegen, schon in der Grundschule. Jemand könnte bei uns zu Hause nachgucken und sagen, ich hätte gar keine echte Familie. Und ob mir das nicht auffalle, dass mich nie einer in den Arm nimmt und dass keiner richtig mit mir redet. Dir ist das nie aufgefallen, Eva!
    Weil es nicht so war.
    So war es sehr wohl, aber du hast es nicht bemerkt. // Denn noch viel weniger als ich wusstest du, was eine Familie ist und was nicht. Vor dir habe ich mich immer sicher gefühlt, Eva.“ (S. 187 f.)
    Nicht nur die psychologische Spannung fesselt, sondern auch der Sprachstil: Er ist schlicht und lakonisch, weist aber auch ungewöhnliche Fügungen auf und die Formen des Konjunktivs I, selbst wenn diese mit dem Indikativ identisch sind. Obwohl parataktischer Satzbau vorherrscht und oft mehrere aufeinander folgende Sätze mit demselben Wort beginnen (der klassische „Wiederholungsfehler“, wie ihn Deutschlehrer anstreichen), kommt keine Langeweile auf. Im Gegenteil. – Weniger zugesagt hat mir persönlich dagegen Annette Wieners Vorliebe für Adverbialien in Schlussstellung und für substantivierte Adjektive und Partizipien.
    Mein Fazit: Ein ungewöhnliche, psychologisch stimmige und stringent gebaute Familiengeschichte, deren Spannung aus den Einblicken in die seelischen Vorgänge und aus der Klärung der Umstände von Marias Tod resultiert, wodurch sich die Erzählerin gleichsam selbst entlarvt. Aber auch der Sprachstil lässt den Leser das Buch mit dem Gefühl, die Lektüre habe "sich gelohnt", aus der Hand legen - und das allein wäre schon viel.

    Non quia difficilia sunt, multa non audemus, sed quia non audemus, multa difficilia sunt. Seneca
    [Nicht weil es schwierig ist, wagen wir vieles nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist vieles schwierig.]