Bernhard Schlink: Der Vorleser

  • Heidelberg, Anfang der Fünfziger Jahre des 20. Jhdts.: Michael Berg, 15 und Gymnasiast aus gutem Hause, lernt die 36 Jahre alte Straßenbahnschaffnerin Hanna kennen. Aus einer zufälligen Begegnung wird eine leidenschaftliche Beziehung, die sich hauptsächlich im Bett abspielt. Für die einsame, unwirsche, schnell beleidigte Hanna wird der geile Schüler zum Fenster in die Welt der Bildung, der Bücher und des Bürgertums. Ganze Schwarten der Weltliteratur liest Michael Hanna vor, denn die ist Analphabetin.


    Nach einem knappen Jahr ist die Liaison zu Ende: Hanna verschwindet. Michael Berg sieht sie erst als Jurastudent wieder – als Angeklagte im Auschwitzprozess. Hanna war nämlich Mitglied der SS und gehörte zu den Wachmannschaften in einem Außenlager von Auschwitz. Michael beobachtet den Prozess jeden Tag, leidet mit Hanna, merkt jedoch schnell, dass diese Hanna mit der geilen Schaffnerin seiner Teeniejahre kaum noch was gemein hat. Hanna wird zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt.


    In diesen 18 Jahren wird Michael Jurist, heiratet, zeugt eine Tochter, läßt sich wieder scheiden und denkt an Hanna. Und er liest ihr wieder vor. Nicht mehr persönlich, sondern auf Kassette. Und wieder sind es ganze Wälzer, Gedichte, Theaterstücke, quer durch das Kulturgut des Bildungsbürgers, die er für Hanna auf Band spricht.


    Als Hanna aus dem Gefängnis entlassen wird, besorgt ihr Michael eine kleine Wohnung und einen Job. Von beidem hat Hanna nichts mehr, denn an ihrem letzten Tag im Gefängnis erhängt sie sich. Im Gefängnis hat sie lesen gelernt. Als Michael ihre Zelle besucht, findet er eine kleine Bibliothek mit Werken über die Konzentrationslager darin. Hannas bescheidenes Erbe geht an Überlebende des Holocaust.


    Dieses Buch ist fast schon weltberühmt geworden. Wie viele berühmte Bücher ist es nicht gut, sondern bestenfalls gut gemeint. Schlinks dürre, klischeehafte Sprache wird der Thematik nirgends gerecht. Die Personen sind mehr Schemen als Figuren; von keiner weiß man, warum sie so wurde, wie das Buch sie schildert. Recherche gibt es fast keine. Die Charaktere werden hin- und hergeschoben wie auf dem Schachbrett. Als Michael Berg nach New York muß, um Hannas Erbschaft einer Auschwitz-Überlebenden zu übergeben, wird kurzerhand in Boston eine Konferenz für Michael erfunden, obwohl nichts in seinem Leben darauf hindeutet, dass er jemals an so einer Teilnehmen würde. Der Holocaust wird verharmlost, seine Opfer lächerlich gemacht. Die Täter wie Hanna avancieren zu bedauernswerten, kuscheligen, reuevollen und ach so tragischen Gestalten, die sie nicht waren.


    Ich kann mir gut vorstellen, dass Kritiker und Leser sich gleichermaßen ein Buch wünschen, in denen gute, reuevolle, also irgendwie doch menschliche Nazis vorkommen, nur kann man die nicht so präsentieren wie Schlink das hier tut.


    Fazit: Leichte Einschlaf-Lektüre für romantische Gutmenschen, die von Geschichte und Psychologie keine Ahnung haben und in diesem Zustand gerne verharren möchten!

    ASIN/ISBN: 3257229534

  • Ganz im Gegenteil: eines der besten deutschen Bücher der vergangenen Jahre. Flüssig erzählt, aber mit sehr genauem Hintergrund und individueller Charakterzeichnung.
    Tja, so können die Meinungen auseinandergehen ...

  • Zitat

    Original von Annette
    Ganz im Gegenteil: eines der besten deutschen Bücher der vergangenen Jahre. Flüssig erzählt, aber mit sehr genauem Hintergrund und individueller Charakterzeichnung.
    Tja, so können die Meinungen auseinandergehen ...


    Ich stimme dir, was den Stil und die Zeichnung des historischen Hintergrunds und der Charaktere betrifft, zu. Aber ist es deswegen schon eines der "besten deutschen" Bücher der letzten Jahre? Dafür ist mir der Stil denn doch etwas zu wenig markant, zu "glatt", zu eingängig, und der Konflikt, ja, der ist mir nicht "abgründig" genug gestaltet (mir fällt gerade kein anderer Ausdruck ein) , um ein wirklich bestes Buch - mit einer großen Zahl von "Leerstellen", an denen Generationen von Interpreten ansetzen könnten - zu ergeben.
    Aber es ist eine super Schullektüre, hinsichtlich Thema, Historie, Charaktere, Stil usw. Ich habe es mal mit einer neunten Klasse Gymnasium gelesen.


    Alexander

    Non quia difficilia sunt, multa non audemus, sed quia non audemus, multa difficilia sunt. Seneca
    [Nicht weil es schwierig ist, wagen wir vieles nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist vieles schwierig.]

  • Hallo,


    ich habe das Buch ganz anders verstanden als du, TH. Walker. Zunächst finde ich, liegt das Problem mit den Nazis eben genau darin, dass sie Menschen waren, wie Du und ich, genau die gleichen, die heute auch rumlaufen, die du überall und zu jeder Zeit findest, wenn es die äußeren Umstände zulassen. Die Nazis waren keine Monster von einem anderen Stern.


    Doch darum geht es überhaupt nicht in diesem Buch, sondern m.E. um zwei andere Aspekte:


    1. So manchen muss in seinem Leben die Erfahrung machen, dass er einen Menschen zu kennen glaubt. Und genau das passiet unserem Protag. Er kennt glaubt die Frau zu kennen und muss erleben, dass er im Grunde nichts über sie wusste, weder ahnte er etwas von ihrer finsteren Vergangenheit, noch davon, dass sie nicht lesen und schreiben kann. Und genau das ist der zweite Punkt.


    2. Die Frau wird als Haupttäterin verurteilt, weil man ihr ein Schriftstück zuordnet. Es wäre ganz leicht für sie gewesen, diesen Vorwurf zu entkräften. Sie ist Analphabetin und kann daher das Schriftstück gar nicht verfasst werden. Aber offensichtlich lässt sie sich lieber als Mörderin verurteilen, als die Schmach auf sich zu nehmen, als Analphabetin geoutet zu werden.


    Ich fand das Buch klasse.


    Grüße


    Helmut

  • Ich mochte dieses Buch nicht. Das lag weniger am Inhalt als an Schlinks Schreibstil. Ich habe es dann noch mit seiner "Gordischen Schleife" versucht, aber ich finde seine Schreibe einfach einschläfernd, trocken, sterbenslangweilig.


    Mehr kann ich zu diesem Buch leider nicht mehr sagen, denn es ist ein paar Jahre her, dass ich es gelesen habe.