Dies ist das einzige Buch eines respektablen Autors, das ich kenne, in dem Gewalt gegen ein Kind und sein sexueller Mißbrauch positiv dargestellt werden. Allein diese Tatsache ist so ungewöhnlich und schockierend, dass dies mit einigen Stellen belegt werden soll.
Auf S. 154/55 lesen wir zum ersten Mal davon, wie Mordecai Wind, genannt Motti, der Protagonist des Buches, seine kaum fünfjährige Tochter Nurit erst schlägt und dann sexuell mißbraucht:
"Sie (Mottis Tochter Nurit) hatte sich nicht gewehrt, sie hatte tapfer seine Schläge erduldet, und als er hinterher weinen mußte, war sie, obwohl sie Schmerzen hatte, im Bett zu ihm gekrochen ... sie hatte sich wie eine Frau über ihn gebeugt, sie hatte versucht, mit ihren kleinen, warmen ungeschickten Fingern seine Tränen wegzuwiscchen, und dabei hatte sie ihn mit ihrer brüchigen, kranken Stimme fast unhörbar getröstet, so schön und so lange, bis er ihrem Werben einfach nicht mehr widerstehen konnte".
Wer denkt, dass diese Szene nicht mehr zu steigern sei, der wird von Biller auf den S. 324/36 eines Besseren belehrt:
"'Nicht schlagen, Vati', sagte Nurit'.
"' Doch ..."'
"'Bitte nicht"'
(...)
Der erste Schlag traf sie auf der Schulter, der zweite bereits auf dem Kopf. Nurit wankte leicht, trotzdem gab ihr nackter Körper nicht nach ... Motti schlug sie mit beiden Händen, aber nicht sehr stark, er schlug sie wie ein wütender Jungem, der auf einen viel größeren losgeht. Zwischendrein hörte er immer wieder kurz auf, er starrte sie keuchend an, doch sie wirkte weiterhin völlig ungerührt, nur ihre aufgesprungene blutige Lippe und der große dunkle Blutstropfen in ihrem rechten Nasenloch zeugten davon, was gerade mit ihr geschah.
(...)
Motti gab ihr links und rechts eine Ohrfeige. ..., sie machte ein paarmal den Mund auf, doch es kam kein einziges Wort mehr heraus, sondern nur ein hohles, leises, langgezogenes Wimmern, und während Motti, nun schon ganz kraftlos, ihr zur Sicherheit ein paar letzte Ohrfeigen gab, sah sie an ihm vorbei zu ihrer Mutter und zu ihrem Großvater."
Nun ist es ja so, dass Gewalt in guter Literatur die poetische Funktion haben sollte, Einsichten und Erkentnisse über Menschen zu vermitteln. Da Biller zu solch extremen Mitteln greift, müßte er eigentlich einen sehr guten Grund dafür haben; der ist jedoch nicht zu erkennen.
Worum geht es eigentlich in diesem Buch? Es ist die Geschichte von Motti Wind, einem jungen Israeli, der im Flugzeug Sofie, eine junge Deutsche, kennen lernt. Motti geht mit Sofie nach München, wo sie heiraten. Motti macht einen Jeans-Laden auf, Sofie studiert Germanistik.
Motti ist ein zierlicher, schwarzhaariger, dunkelhäutiger Israeli, der einen Kopf kleiner ist als seine walkürenhafte Frau, die jedoch dem Leben genauso wenig gewachsen ist wie er. Während Motti bald mit seinem Laden Pleite macht (die Schulden übernimmt der ungeliebet Schwiegerpapa), kommt Sofie aus den Problemen gar nicht mehr heraus. Erst wird sie vom ihrem Professor hereingelegt, dann wird ihre Dissertation abgelehnt, schließlich kommt sie bei einem Verlag unter, wo sie bald ins Abseits bugsiert wird.
Sofie ist die Rabenmutter par excellence. Erst will kein Kind, als es da ist, kümmert sie sich nie darum, und als das Jugendamt gegen Mottis sexuellen Mißbrauch nichts unternimmt, billigt Sofie das stillschweigend.
Nach Jahren der Schläge und des Mißbrauchs wird Nurit von ihren Eltern (der Roman sagt nicht von wem genau) aus aus dem Fenster ihrer Schwabinger Wohung geworfen, wo sie im Vorgarten stirbt.
Das ist der Plot des Romans, aber so wird der Roman nicht erzählt.
Erzählstruktur: Der Roman besteht aus 30 Kapiteln (ohne Nummerierung, Zählung von mir), die von einem internen Erzähler in der dritten Person erzählt werden. Es gibt eine Rahmenhandlung und dazwischen diverse Rückblenden. Die Rahmenhandlung spielt in München an einem Sonntag im Februar, vermutlich im Jahr 1998, als Nurit bereits zehn Jahre tot ist.
Rahmenhandlung: Motti schaut sich ein Pornovideo an und ist überzeugt, dass die onanierende Aktrice seine Tochter Nurit ist. Dann verlässt er seine Wohnung, um Nurit, die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat (weil sie tot ist, der Leser weiß dies aber noch nicht) für immer zu sich zu holen. Mit Bus, Taxi, Tram und S-Bahn fährt er quer durch Groß-München, in der Manteltasche das Cover des Pornovideos, das angeblich Nurit zeigt. Er hört Stimmen, die es nur in seinem Kopf gibt, und verliert zunehmend die Kontrolle über sich. Am Hauptbahnhof bricht er in einem Lokal zusammen, schmeißt den Tisch um, wird von einem sadistischen Kellner zum Aufräumen gezwungen (Motti ist, obwohl in Israel Panzerfahrer und Soldat, klein und schwach), kriecht auf allen Vieren durch die Fußgängerzone, schafft es in eine Tram, die ihn nach Schwabing bringt, wo er bei Sofie (die jetzt Sarah heißt und einen anderen Israeli geheiratet hat) läutet, Nurit verlangt, sie nicht bekommt (da sie ja tot ist), ein Bad nimmt und dann irgendwie wieder nach Hause kommt.
Rückblenden und Parallelhandlung: Zwischen den Kapiteln der Rahmenhandlung wird die Geschichte von Mottis Ehe und die seiner Eltern (der Vater ist - bedeutungsschwer - KZ-Überlebender) erzählt. Immer wieder taucht in einem wilden Bruch der Erzählperspektive ein Ich-Erzähler auf, der Mottis Gedanken kennt, was ihn zu einem allwissenden Erzähler macht, der im Roman eigentlich nichts zu suchen hat. Dieser Ich-Erzähler ist auch mit einer zum Judentum konvertierten Deutschen verheiratet (Marie) und hasst genau wie Motti Deutschland und die Frauen. Durch diesen namenlosen Ich-Erzähler wird in der zweiten Hälfte des Buches eine Parallelhandlung begonnen, die viel zur Verwirrung des Lesers beiträgt. So ganz nebenbei erfährt der Leser auch noch, dass der unansehnliche Versager Motti, der Privatstunden in Thora- und Talmudlektüre gibt, auf Frauen unwiderstehlich wirkt und mit seinen ältlichen Schülerinnen (eine davon wieder bedeutungsschwer die Tochter eines Lebensborn-Nazis) reihenweise ins Bett geht.
Sprache und Stil: Biller bemüht sich um ein exaktes Deutsch, insbesondere seine Beschreibungen von Gegenstädnen sind so exakt wie die von Adalbert Stifter, was etwas heißen will. Der Stil ist schwer, bedeutungsvoll und von Adjektiven gesättigt. Die Figuren des Romans sind durch die Bank unangenehme Charaktere, denen man im realen Leben lieber nicht begegenen möchte. Motti wird von Biller als der grundsätzliche anständige junge Mensch gezeichnet, der aber an den Umständen, den Mitmenschen (Sofie) und insbesondere an Deutschland verzweifelt, ja darüber verrückt wird. Der Roman unterstellt ganz klar, dass Motti sein Kind schlägt, mißbraucht und wahrscheinlich auch ermordet, weil das Leben in Deutschland ihn dazu getrieben hat.
Biller hat versucht, einen Großstadtroman nach bekannten Vorbildern mit einem psychologischen Entwicklungsroman zu verbinden. Auch hier ist die äußere Reise durch München die innere Reise. Die Verwandten Motti Winds in dieser Hinsicht sind Leopold Bloom, Holden Caulfield, Franz Biberkopf und Leutnant Gustl.
Biller ist gewiß ein überaus intelligenter Schriftsteller, der jedoch mit viel zu viel Bedeutung hausieren geht, viel zu viel Hass in so eine - eigentlich dürftige - Geschichte gepackt hat und dem Leser eine Achterbahnfahrt der Erzählperspektiven zumutet, die die Lektüre erschwert. Die einzigartig abstoßende Darstellung der Vater-Kind-Beziehung und die durchweg konstruierten Charaktere (Menschen sind nicht so) hinterlassen Trostlosigkeit und Abstumpfung.
ASIN/ISBN: 3423129336 |